Die Kunst des Klavierspiels
Von Hannes Sonntag
Immer noch ist der Klavierabend so etwas wie ein Urgestein des klassischen Konzertwesens. Die Zahl der Pianisten, jung oder alt, dürfte höher sein als die aller anderen Instrumentalisten. Und daher ist die Orientierung in diesem so üppigen Segment keineswegs einfach – hier gilt das bekannte Wort von jenem Wald, den man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht…
Ich wage – ungeschützt und unbewiesen – an dieser Stelle die These, dass wirkliche künstlerische Klasse unter den vielen brillanten pianistischen Profis unserer Tage alles andere als die Regel ist. Die perfekte Spielart des modernen Konzertflügels leistet einem rein sportiven, mechanischen (und daher kalten) Musik-Machen zusätzlich willkommenen Vorschub.
Umso kostbarer sind Augenblicke, wie Elena Nesterenko sie uns in ihrem Klavierabend bescherte. Gerade die gewissermaßen „abgebrühten“, routinierten Hörer klassischer Musik wissen das in besonderer Weise zu schätzen. Ein solcher klanglicher Farbreichtum bei Skrjabin und Mussorgsky, diese große und echte, stets aber klug disponierte Emotionalität kennzeichnen die wahre Künstlerin. Unwillkürlich fühlt man die innere Richtigkeit dessen, was da auf der Bühne geschieht.
Ich habe verschiedentlich lange Gespräche mit Elena Nesterenko über diese Thematik geführt. Sie betonte dabei gern das sich gegenseitig steigernde geistige Volumen der deutschen und russischen Tradition des Klavierspiels – für das stellvertretend Namen stehen wie Heinrich Neuhaus, als genialem Pädagogen, oder Sviatoslav Richter, als genialem Pianisten. Und wir waren uns ganz und gar einig darin, dass – jenseits aller nötigen Virtuosität – gültige Musik-Interpretation nur stattfinden kann, wenn das Ausloten der mentalen Struktur und Tiefe einer Komposition den allerersten Maßstab für musikalische Qualität bildet.
Insofern dürfen wir uns, gemeinsam mit dem begeisterten Schiederaner Publikum, glücklich schätzen, Zeugen eines derartigen Musizierens gewesen zu sein.