Auf der pianistischen Überholspur – Artem Yasynskyy
von Hannes Sonntag
Spontan und kurz entschlossen kam er zu uns aufs Schloss – sein Debut in der New Yorker Carnegie Hall gerade eben absolviert. Und jung, fesselnd und ungestüm wirkte auch sein Klavierspiel. Da war nichts Gedrechseltes, mühsam Ausgedachtes oder stilistisch Gesuchtes. Dürfte ich nur ein einziges Adjektiv verwenden, würde ich sagen: dieses Spiel war ‚gerade‘ – und vielleicht den Hinweis anfügen: ‚russische Schule‘, also technisch brillant und klanglich direkt. Vielleicht kann man sich den ganz jungen Emil Gileles ein wenig ähnlich vorstellen.
Zwischen Bach und Mussorgsky kam, so will mir scheinen, vor allem den Brahmsschen Händel-Variationen diese aufs Ganze gehende Spielweise zugute. Welch ein brillanter Pianist muss seinerseits der junge Brahms gewesen sein, der insgesamt achtzehn mal dieses athletische Werk öffentlich aufführte!
Und dann ‚in between‘ – eine so gut wie vollständig unbekannte pianistische Mauerblume – drei Stücke aus den ‚Chants du voyageur‘ eines der erfolgreichsten Pianisten aller Zeiten: Ignacy Jan Paderewski. Der 1941 in New York gestorbene polnische Großmeister und Ex-Politiker (!) zeigte sich kompositorisch als eher leichte – aber bezaubernde Kost. Gut, dass er an diesem Abend unter den Händen von Artem Yasynskyy für den lyrischen Part der Musik sorgte.
Als wir nach Käse und Wein den jungen Künstler bei klirrender Nachtkälte verabschiedeten, war klar, dass er auf der Überholspur fährt: an diesem selben Abend musste er noch weiter.
Die Kunst des Klavierspiels
Von Hannes Sonntag
Immer noch ist der Klavierabend so etwas wie ein Urgestein des klassischen Konzertwesens. Die Zahl der Pianisten, jung oder alt, dürfte höher sein als die aller anderen Instrumentalisten. Und daher ist die Orientierung in diesem so üppigen Segment keineswegs einfach – hier gilt das bekannte Wort von jenem Wald, den man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht…
Ich wage – ungeschützt und unbewiesen – an dieser Stelle die These, dass wirkliche künstlerische Klasse unter den vielen brillanten pianistischen Profis unserer Tage alles andere als die Regel ist. Die perfekte Spielart des modernen Konzertflügels leistet einem rein sportiven, mechanischen (und daher kalten) Musik-Machen zusätzlich willkommenen Vorschub.
Umso kostbarer sind Augenblicke, wie Elena Nesterenko sie uns in ihrem Klavierabend bescherte. Gerade die gewissermaßen „abgebrühten“, routinierten Hörer klassischer Musik wissen das in besonderer Weise zu schätzen. Ein solcher klanglicher Farbreichtum bei Skrjabin und Mussorgsky, diese große und echte, stets aber klug disponierte Emotionalität kennzeichnen die wahre Künstlerin. Unwillkürlich fühlt man die innere Richtigkeit dessen, was da auf der Bühne geschieht.
Ich habe verschiedentlich lange Gespräche mit Elena Nesterenko über diese Thematik geführt. Sie betonte dabei gern das sich gegenseitig steigernde geistige Volumen der deutschen und russischen Tradition des Klavierspiels – für das stellvertretend Namen stehen wie Heinrich Neuhaus, als genialem Pädagogen, oder Sviatoslav Richter, als genialem Pianisten. Und wir waren uns ganz und gar einig darin, dass – jenseits aller nötigen Virtuosität – gültige Musik-Interpretation nur stattfinden kann, wenn das Ausloten der mentalen Struktur und Tiefe einer Komposition den allerersten Maßstab für musikalische Qualität bildet.
Insofern dürfen wir uns, gemeinsam mit dem begeisterten Schiederaner Publikum, glücklich schätzen, Zeugen eines derartigen Musizierens gewesen zu sein.